Bei heutigen Maßpreisen auf dem Oktoberfest kommt man mit 100 Pfennig nicht weit. Aber 1921 auch nicht, für den Betrag bekam man noch nicht mal ein Bier. Dann ist es wohl weniger ein klassischer Serienschein, wenn auch nur ausschließlich einlösbar im Kaffee- und Konzerthaus E. Wilms jr. bis zum 31. Oktober? Eher ist es ein Reklameschein, um für das Oktoberfest vom 15.-17. Oktober zu locken. Auf dem Schein steht noch mehr Interessantes. Die Zillertaler Schürzenjäger sind landläufig bekannt, aber wie steht‘s mit den ‚Lustigen Zillertalern‘? Auf dem Internet stieß ich sofort auf eine Neonaziband gleichen Namens. Das führt nicht weiter.
Friedensöl, Chico, Biedermeier und St. Rochus, die in der Likörstube probiert werden konnten, scheinen nicht mehr zu existieren, ebenso die Klosterkellerei Karl Schwarz aus Düsseldorf.
Aber wer war der ominöse Regisseur Mister Meschugge, Bandleader oder Conférencier? Als Erstes fand ich eine Tonaufnahme auf YouTube vom 17. März 1913:
„Ein Augenzeuge notierte damals:
Im Café Oranienburger Tor hörte ich zum ersten Mal so etwas wie eine Jazzkapelle. Man nannte es damals eine Radaukapelle. (…) Der Kapellmeister nannte sich “Mister Meschugge” und benahm sich wie ein Wahnsinniger. Er tat so, als könne er den Lärm nicht mehr meistern, zerbrach seinen Taktstock oder hieb mit seiner Geige plötzlich einem Musiker über den Kopf. Schließlich riss er die große Bassgeige an sich und führte mit ihr einen grotesken Kampf auf. Das Ende war immer, dass er die Stücke der zersplitterten Geige ins Publikum schleuderte, das vor Entzücken brüllte und die Trümmer zurückwarf.
Ununterbrochen brachten Kellner neue Lagen Bier und Schnaps für die Kapelle. Das erhöhte die Stimmung enorm. “Meschugge” riss den Musikern die Instrumente aus den Händen, tanzte, sang, sprang plötzlich auf den Flügel und markierte einen sich kratzenden Affen, nahm dann ein großes Glas Bier, tat so, als ob er dem begeisterten Publikum zuprostete und goss es dann blitzschnell einem seiner Musikanten in die Trompete… Das Publikum wälzte sich vor Lachen.”
Das war aber noch nicht der Weisheit letzter Schluss: Auf grammophon-platten.de fand ich, dass Mister Meschugge 1919 verstorben war. Wie kann er dann 1921 aufgetreten sein?
„Einer von ihnen, der in einem Nachtlokal im Berliner Quartier Latin sich auf dem Konzertpodium besonders verrückt gebärdete, wurde deswegen “Mr. Meschugge” genannt; der gute Mann war dar ob so stolz, dass er sich diesen Namen als Ehrentitel beilegte. Er fand aber bald so viele Nachahmer, dass der Titel ‚Mr. Meschugge‘ sich zu einer Art Standesbezeichnung entwickelte. Es nutzte Herrn ‚Mr. Meschugge‘ Nr. 1 nichts, dass er sich in seinen Ankündigungen als den originalen und allein echten ‚Mr. Meschugge‘ bezeichnete.
Café-Inhaber inserierten, um dem Zeitgeist gerecht zu werden:
„In der Hoffnung, das launische Publikum durch neue Sensationen heranzuziehen, engagieren heute viele Cafetiers nur noch Ensembledirigenten, die weniger durch künstlerische Darbietungen als durch originelles Exterieur und durch Clowns-Späße interessieren.“
In den Zeitungen lautete es:
„Exzentrischer Kapellmeister für Berlin. Solcher mit Routine in humoristischen Ansprachen und langen Haaren wird bevorzugt.“ oder „Humoristischer Dirigent. Blödsinnskandidat firm in exzentrischen Einfällen und im Verkehr mit dem Publikum. Je toller, je lieber. Musik Nebensache, da gutes Orchester vorhanden.“
Aha, es reisten also mehrere Meschugges durchs Land und bekamen eine Kapelle ggf. gestellt. E. Wilms hatte unseren Mister Meschugge vielleicht per Inserat gefunden und durfte wegen der Gaudi auf einen erhöhten Bierkonsum. Da machen die paar Pfennige, die den Gegenwert des Scheines darstellten, nicht viel aus.
Eine niederländische Zeitung berichtet über den Meschugge-Boom aus Berlin:
„Kommen Sie wohin Sie wollen in der Stadt; überall Bierhäuser mit Streichmusik, und diese bereits unter dem Kommando von Mister Meschugge. Er kann sich scheinbar verhundertfachen. Er ist allgegenwärtig in Berlin, der berühmten und vielgepriesenen – auf Reklame-Billetten. Wenn man annimmt, dass die Dinge auf dieser Welt ihren natürlichen Gang gehen, muss man sich über das Musik- und Clownstalent in der Familie Meschugge verwundern. So viele Exemplare auf einmal erscheinen unbegreiflich. Aber wenn man weiß, dass Meschugge ein Pseudonym ist und krank, geck, närrisch bedeutet, dann wundert man sich nicht mehr über die zahlreichen Künstler, die diesen Namen tragen. Eine fruchtbare Art, die nicht ausstirbt.“
Wer einen Leibhaftigen sehen will, findet auf YouTube die Foxtrott-Szene in Ernst Lubitschs Film ‚Die Austernprinzessin/The Oyster Princes‘.
Die auf dem Schein vermerkte Druckerei Hubert Lambertz druckte den gleichen Schein übrigens auch für Krefeld, wo unser Mister Meschugge X einen weiteren Auftritt hatte.